Tod durch Staat


Startseite

Über Rudolph Rummel

Interview mit Rudolph Rummel

Links

Übersetzte Texte:

a) Bücher:

Macht tötet, Kapitel 1

Tod durch Staat, Kapitel 1

Tod durch Staat, Kapitel 2

Leben retten, Kapitel 1

Leben retten, Kapitel 8

b) Artikel:

Genozid

Demokratische Friedensuhr

Demozid und Krieg ausmerzen

Demozid nach dem 2.Weltkrieg

 

 

Originaltitel des Buchs:
R.J. Rummel: Death by Government. New Brunswick, N.J.: Transaction Publishers, 1994

Anmerkung des Übersetzers: Die von Rummel 1994 genannten Demozid-Zahlen für das 20. Jahrhundert sind von ihm selbst im Jahre 2005 zweimal nach oben korrigiert worden: Erstens durch neue Erkenntnisse über die Terrorherrschaft von Mao Tsetung, vor allem auf der Basis der Mao-Biographie von Jung Chang, sowie zweitens durch eine Neubewertung des kolonialen Genozids vor allem in Belgisch-Kongo ergibt sich eine neue Gesamtzahl von 262 Millionen Demozid-Toten zwischen 1900 und 1999.

Kapitel 1: Demozid im 20. Jahrhundert

von R.J. Rummel

„Macht beseitigt nach und nach alle edlen Tugenden, zu denen der menschliche Geist fähig ist.“
----Edmund Burke, A Vindication of Natural Society

„Gleich einer wütenden Seuche besudelt die Macht alles, was sie berührt.“
----Shelley, Queen Mab III

„Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut.“
---- Lord Acton, Brief an Bischof Creighton

Macht tötet, absolute Macht tötet absolut. Dieses neue Prinzip der Staatsmacht ist die Botschaft, die sich aus meiner bisherigen Arbeit über die Ursachen von Krieg1 sowie aus dem vorliegenden Buch über Genozid und staatlichen Massenmord, den ich mit „Demozid“ bezeichne, in diesem Jahrhundert ergibt. Je mehr Macht ein Staat hat, desto mehr kann er willkürlich den Launen und Wünschen der Elite entsprechend agieren, desto öfter wird er Krieg gegen andere führen und aus- und inländische Staatsangehörige ermorden. Je beschränkter die Staatsmacht ist, je mehr sie sich verteilt, gegenseitig kontrolliert und ausgleicht, desto weniger aggressiv wird sie sein und desto weniger Demozid wird sie begehen. Bei extremer Staatsmacht2 haben totalitäre kommunistische Staaten ihre Völker zu Abermillionen getötet, während viele Demokratien es kaum über sich bringen, selbst Serienmörder hinzurichten.

Diese Aussagen sind extrem und kategorisch, genau wie der Gesamtbefund aus diesem Buch, Death By Government (Tod durch Staat), und des ergänzenden Buchs Statistics of Democide. Betrachten wir zunächst einmal den Krieg. Tabelle 1.1  zeigt das Kriegsaufkommen zwischen Nationen seit 1816. In keinem Fall hat es einen Krieg mit gewaltsamen militärischen Aktionen zwischen stabilen Demokratien3 gegeben, obgleich diese, wie jedermann weiß, Nicht-Demokratien bekämpft haben. Die meisten Kriege spielen sich zwischen Nicht-Demokratien ab. Wir haben es hier in der Tat mit einem allgemeinen Prinzip zu tun, das bei Forschern über internationale Beziehungen und Krieg zunehmend akzeptiert wird. Es besagt, daß Demokratien keinen Krieg gegeneinander führen. Dem würde ich hinzufügen, daß je weniger demokratisch zwei Staaten sind, die Wahrscheinlichkeit desto größer ist, daß sie miteinander Krieg führen.

Die These von der Kriegslust, die von einer uneingeschränkten Staatsmacht ausgeht, ist keine Erfindung einer kleinen Anzahl von Demokratien oder eine Erfindung unseres Zeitalters. Schließlich beträgt die Anzahl demokratischer Länder im Jahre 1993 ungefähr fünfundsiebzig, wozu man noch achtundvierzig dazugehörige Territorien zählen kann. Das ist insgesamt ein Viertel der Weltbevölkerung4. Und dennoch gab es keinen einzigen Krieg zwischen diesen Ländern, und es gibt auch keinerlei Kriegsdrohungen unter ihnen. Sie bilden eine Oase des Friedens.

Darüber hinaus trifft dieser Befund auch historisch gesehen auf Demokratien zu. Wenn man die Definition von Demokratie weiter faßt und damit lediglich Staatsmachtsbeschränkung durch die Teilhabe von Mittel- und Unterschichten an den Entscheidungen von Machthabern und an der Politikgestaltung meint, dann gab es im Laufe der Geschichte viele Demokratien. Ob man die klassischen griechischen Demokratien, die mittelalterlichen Walddemokratien der Schweiz oder die modernen Demokratien betrachtet: Sie führten bzw. führen nicht Krieg gegeneinander (abhängig davon wie man Krieg und Demokratie definiert, ist man manchmal vielleicht eher geneigt zu sagen, daß sie nur selten Krieg führten bzw. führen).5 Und sobald außerdem solche Länder, die Todfeinde gewesen waren und sich oft bekriegt hatten (wie etwa Frankreich und Deutschland in den letzten Jahrhunderten), zu Demokratien wurden, hörte der Krieg zwischen ihnen auf.6 Beispielhaft für eine solche Entwicklung ist Westeuropa nach 1945. Da Europa viele Jahrhunderte lang einen Hexenkessel aus unseren zerstörerischsten Kriegen bildete, hätte man 1945 keinen noch so vermessenen Experten gefunden, der nicht nur fünfundvierzig Jahre des Friedens vorhergesagt hätte, sondern auch, daß es am Ende dieses Zeitraums eine Europäische Gemeinschaft mit zentralen staatlichen Institutionen geben würde, daß Frankreich und Deutschland Schritte hin zu einer gemeinsamen europäischen Armee unternehmen würden und daß die Chance, daß irgendwelche dieser vormals einander feindlich gesinnten Länder Gewalt gegeneinander anwenden würden, gleich Null sein würde. Doch genau dies ist passiert, und das weil all diese Länder Demokratien sind. Es scheint, daß selbst bei primitiven Stämmen, bei denen die Macht geteilt und beschränkt ist, Krieg weniger wahrscheinlich ist. Auch wenn man über absolute und willkürliche Macht lediglich sagen müßte, daß sie Krieg und in dessen Gefolge das Töten der jungen und fähigsten Mitglieder unserer Spezies verursacht, hätten wir schon ausreichend Argumente gegen sie. Doch wie die Fallstudien in diesem Buch klar beweisen werden, kommt es noch schlimmer: Selbst wenn man menschliche Verluste als unvermeidliche Folge von Kampfhandlungen entschuldigt, dann bleibt übrig, daß Macht kaltblütige Massaker an hilflosen Untertanen verursacht. Die Zahl der so Ermordeten ist um ein Vielfaches höher als die durch Kampfhandlungen Umgekommenen. Betrachtet man Tabelle 1.2 und Abbildung 1.1, eine Liste und ein Diagramm der Megamörder dieses Jahrhunderts, dann sieht man, daß diese Staaten kaltblütig und ohne Kriegseinwirkung eine Million und mehr Männer, Frauen und Kinder töteten. Diese fünfzehn Megamörder haben über 151 Millionen Menschen ausradiert, das sind fast vier mal mehr als die fast 38,5 Millionen Kriegstoten aller Kriege und Bürgerkriege dieses Jahrhunderts bis 1987.8 Die absolutesten Mächte, nämlich die kommunistischen UdSSR, China und die vorhergehenden Mao-Guerillas, die Roten Khmer in Kambodscha, Vietnam und Jugoslawien sowie das faschistische Nazi-Deutschland, sind für fast 128 Millionen bzw. 84% dieser Toten verantwortlich.

Tabelle 1.2 zeigt auch die jährliche prozentuale Demozidrate (der Prozentsatz der eigenen Bevölkerung, die ein Regime pro Jahr ermordet) für jeden Megamörder, und in Abbildung 1.1 wird diese Rate als graphische Überlagerung über der jeweiligen absoluten Zahl der Getöteten dargestellt, wobei berücksichtigt werden muß, daß die Sowjetunion und das kommunistische China eine sehr große Bevölkerung hatten, was eine kleine jährliche Demozidrate ergibt. Bezogen auf die jeweilige Gesamtbevölkerung haben einige unterhalb der Megamördergrenze stehende Staaten noch viel vernichtender gewirkt.

Tabelle 1.3 listet die fünfzehn tödlichsten Regime auf, und die Abbildung 1.2 stellt diese in einem Balkendiagramm dar. Wie man sieht, kommt kein anderer Megamörder auch nur annähernd an die Todesrate der kommunistischen Roten Khmer in Kambodscha zwischen 1975 und 1978 heran. Wie in Kapitel 9 von Tod durch Staat (Death by Government) beschrieben, haben die Roten Khmer in weniger als vier Jahren ihrer Herrschaft mehr als 31% der von ihnen beherrschten Männer, Frauen und Kinder umgebracht. Die Chance eines Kambodschaners, diese vier langen Jahre zu überleben, betrug also nur 2,2 zu 1.

Dann gibt es die Kilomörder, also jene Staaten, die Unschuldige zu Zehn- oder Hunderttausenden getötet haben, so wie die ersten in der Tabelle 1.2 aufgeführten fünf: Chinas Kriegsherren (1917-1949), Atatürks Türkei (1919-1923), Großbritannien (vor allem wegen der Nahrungsblockade gegen die Mittelmächte während und nach dem Ersten Weltkrieg 1914-19 sowie der wahllosen Bombardierung deutscher Städte 1940-45), Portugal (1926-1982) und Indonesien (1965-87). Einige kleinere Kilomörder waren die kommunistischen Regime in Afghanistan, Angola, Albanien, Rumänien und Äthiopien sowie die autoritären Regierungen in Ungarn, Burundi, Kroatien (1941-44), Tschechoslowakei (1945-45), Indonesien, Irak, Rußland und Uganda. Wegen ihrer wahllosen Bombardierung deutscher und japanischer Zivilisten müssen auch die Vereinigten Staaten dieser Liste hinzugefügt werden (siehe auch Statistics of Democide). Diese und andere Kilomörder machen zusammen fast 15 Millionen der demozidal ermordeten Menschen dieses Jahrhunderts aus, wie Tabelle 1.2 zeigt.

Natürlich stellt die Aussage, daß ein Staat oder Regime ein Mörder ist, eine bequeme Personifizierung einer abstrakten Sache dar. Regime bestehen in Wirklichkeit aus Menschen, welche die Macht haben, eine ganze Gesellschaft zu befehligen. Es sind diese Leute, welche die Kilo- und Megamorde unseres Jahrhunderts begangen haben, und wir dürfen nicht deren Identität durch die Abstraktionen „Staat“, „Regime“, „Regierung“ oder „kommunistisch“ aus dem Auge verlieren. Tabelle 1.4 listet jene berüchtigtsten Männer auf, die alleinverantwortlich für die Megamorde dieses Jahrhunderts sind. Stalin führt diese Liste unangefochten an. Er befahl den Tod von Millionen, setzte wissentlich Ereignisse in Gang, die zum Tode von Millionen weiterer Menschen führten, und als oberster Diktator war er für den Tod von noch mehr Millionen Menschen verantwortlich, die durch seine Schergen getötet wurden. Es mag überraschend sein, Mao Tse-Tung als nächsten in der Reihe der größten Mörder dieses Jahrhunderts zu finden, doch das rührt allein daher, daß das volle Ausmaß der kommunistischen Morde in China unter seiner Führung im Westen nicht großartig zur Kenntnis genommen wurde. Hitler und Pol Pot gehören natürlich zu diesen blutigen Tyrannen, und was die anderen betrifft, deren Namen in dieser Reihe seltsam erscheinen mögen, so wurden deren Megamorde detailliert in Death By Government beschrieben. Das monströse Blutvergießen zumindest dieser neun Männer sollte Eingang in eine Halle der Schande finden. Ihre Namen sollten uns für immer vor dem tödlichen Potential der Staatsmacht warnen.

Die wichtigeren und besser bekannten Episoden und Institutionen, für welche diese und andere Mörder verantwortlich waren, sind in Tabelle 1.5 aufgelistet. Weit vorne steht der Gulag, das sowjetische Sklavenarbeitssystem, das von Lenin geschaffen und von Stalin aufgebaut wurde. In etwa 70 Jahren zermalmte es fast 40 Millionen Menschen, das ist mehr als doppelt so hoch wie die Zahl der wahrscheinlich während der etwa 400 Jahre des afrikanischen Sklavenhandels Umgekommenen, von der Gefangennahme bis zum Verkauf auf Märkten in Arabien, im Orient oder in der Neuen Welt.9

Zusammengenommen sind während der ersten achtundachtzig Jahre dieses Jahrhunderts fast 170 Millionen Männer, Frauen und Kinder erschossen, erschlagen, zu Tode gefoltert, erstochen, verbrannt, ausgehungert, erfroren, zerquetscht worden oder mußten sich zu Tode arbeiten. Oder sie wurden lebendig begraben, ertränkt, gehängt, ausgebombt oder wurden auf die eine oder andere der unzähligen Methoden getötet, mit denen Staaten Tod über unbewaffnete, hilflose Bürger oder Ausländer gebracht haben. Es ist möglich, daß die Zahl der Toten sogar bei 360 Millionen liegen könnte. Das ist so, als ob unsere Spezies von einer modernen Schwarzen Pest verwüstet worden wäre. Und sie ist es wohl auch, jedoch von einer Pest der Staatsmacht und nicht der Keime.

Die Seelen dieses monströsen Totenhaufens haben unter uns ein neues Land geschaffen, eine neue Nation. Lassen wir mit Shakespeare „dieses Land das Feld von Golgatha und der Totenschädel nennen“. Wie schon aus Tabelle 1.2 mit den aufgelisteten Megamördern klar hervorgeht, ist dieses Land multikulturell und multiethnisch, seine Einwohner glauben an alle Religionen und sprechen alle Sprachen der Welt. Seine demographische Zusammensetzung muß noch präzise ermessen werden, und bislang sind ungefähr nur zwei Zählungen vorgenommen worden, von denen die jüngste Death by Government (Tod durch Staat) darstellt.11 Doch diese letzte Zählung erlaubt es uns, das Land der Ermordeten an die sechste Stelle der bevölkerungsreichsten Nationen der Lebenden zu setzen, wie in der Abbildung 1.3 gezeigt wird.

Diese Volkszählung und die Schätzungen der Forscher ermöglichen es uns auch, Golgathas ethnische Zusammensetzung zu schätzen, wie sie in Abbildung 1.4 illustriert wird. Chinesen machen 30% seiner Seelen aus, als nächstes kommen die Russen mit 24%. Dann gibt es einen weitaus geringeren Prozentsatz von Ukrainern (6%), Deutschen (4%), Polen (4%) und Kambodschanern (2%). Die restlichen 30% setzen sich aus Koreanern, Mexikanern, Pakistanis (meistens ethnische Bengalen und Hindus), türkischen Staatsangehörigen und Vietnamesen zusammen.

Doch ist Golgatha überwiegend asiatisch? Oder europäisch? Aus welcher Region kommen die meisten toten Seelen? Die Abbildung 1.5 läßt zwei verschiedene Betrachtungsweisen zu: Einmal basierend auf dem Prozentsatz der Golgather aus einer bestimmten Region oder auf dem Prozentsatz an der lebenden Bevölkerung einer Region im Jahre 1987. Während absolut gesehen die meisten, nämlich etwa 40%, aus Asien und dem Mittleren Osten stammen, weist den höchsten Anteil der Golgather an der Bevölkerung eines Volkes, nämlich rund 22%, das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion auf. Anders ausgedrückt stellen Asiaten die zahlenmäßig größte Gruppe dar, während die frühere Sowjetunion den größten Teil ihrer Bevölkerung opferte. Es sei angemerkt, daß 18% der Golgather frühere Europäer sind, worin alle Osteuropäer außer der ehemaligen UdSSR enthalten sind. Europa hat 6% seiner Bevölkerung diesem Land der Ermordeten überlassen.

So viel zu Golgatha und einem zusammenfassenden Überblick über seine statistischen Daten. Wie ich bereits verdeutlichte, verdankt Golgatha seine Existenz der staatlichen Macht. Ich kann nun etwas genauer werden. Tabelle 1.6 faßt die vorsichtigsten Demozid-Ergebnisse zusammen und stellt sie den Kriegsgefallenen dieses Jahrhunderts gegenüber. Abbildung 1.6 zeigt ein Balkendiagramm zu diesen Gesamtzahlen.12 Man sieht anhand der Abbildung sofort, daß bei autoritären und totalitären Regierungen die menschlichen Opferzahlen in Bezug auf Demozid viel größer sind als in Bezug auf Kriege, während in Demokratien, obwohl sie weniger Kriegsgefallene als andere Regime beklagen, die entsprechende Gesamtzahl immer noch größer ist als die Zahlen für demokratischen Demozid im In- und Ausland. Bei der Bewertung der Kriegsgefallenen von Demokratien ist zu bedenken, daß diese Toten als Ergebnis von Kriegen zu beklagen waren, welche Demokratien gegen autoritäre oder totalitäre Aggressionen führten, wobei vor allem der Erste und Zweite Weltkrieg, der Korea- und Vietnamkrieg zu nennen sind.13

Nimmt man die Verluste an Menschenleben durch Krieg und Demozid zusammen, dann hat staatliche Macht mehr als 203 Millionen Menschen in diesem Jahrhundert getötet. Wenn man an einem Tisch sitzen müßte und all diese vielen Leute durch die Tür hereinließe, wobei man sie in einer Geschwindigkeit von 3 Meilen pro Stunde gehen und den Raum jeweils mit einem Abstand von 3 Fuß voneinander durchqueren (wobei man großzügigerweise annimmt, daß jede Person von Rücken bis Bauch auch einen Fuß breit ist) und sie aus einer gegenüberliegenden Tür hinausgehen lassen würde, dann würde es mehr als fünf Jahre und neun Monate dauern, bis alle durchgegangen wären, und zwar 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr. Würde man all diese Toten von Kopf bis zu den Zehen hintereinander hinlegen und dabei annehmen, daß alle durchschnittlich fünf Fuß groß seien, dann würde diese Linie zwanzig mal länger sein als die Strecke von Honolulu in Hawaii über den riesigen Pazifik und die riesige kontinentale Landmasse der USA bis hin nach Washington D.C. an der Ostküste und das ganze nochmal zurück.14  Wäre zudem jeder dieser Leute durchschnittlich zwei Fuß breit, dann würde es 55 Quadratmeilen brauchen, um sie neben- und hintereinander zu begraben. Auch wenn man jeden Fußbreit von ganz San Marino, Monaco und des Vatikanstaats zusammen aufgraben würde, hätte man nicht genügend Platz, um auch nur die Hälfte all dieser Demozid- und Kriegstoten zu beerdigen.

Nun sind, wie in Tabelle 1.6 und Abbildung 1.6 gezeigt, Demokratien für einen Teil der Demozidopfer selbst verantwortlich. Dies bezieht sich fast ausschließlich auf in Kriegszeiten im Ausland begangenen Demozid, und meistens wurden solche Zivilisten feindlicher Länder in wahllosen Städtebombardierungen umgebracht, wie in Deutschland und Japan während des Zweiten Weltkriegs. Dazu gehören auch die großangelegten Massaker an Filippinos während der blutigen amerikanischen Kolonialisierung zu Beginn dieses Jahrhunderts, Todesfälle in britischen Konzentrationslagern in Südafrika während des Burenkriegs, zivile Hungeropfer während der britischen Blockade Deutschlands während und nach dem Ersten Weltkrieg, die Vergewaltigung und Ermordung hilfloser Chinesen in und um Peking im Jahre 1900, die von Amerikanern begangenen Greuel in Vietnam, die Ermordung hilfloser Algerier durch Franzosen während des Algerienkriegs und die unnatürlichen Tode deutscher Kriegsgefangener in französischen und amerikanischen Kriegsgefangenenlagern nach dem Zweiten Weltkrieg.16

All diese Morde an Ausländern durch Demokratien scheinen dem Prinzip der Staatsmacht zu widersprechen, doch in Wirklichkeit unterstreichen sie es. Denn in jedem dieser Fälle wurde das Töten insgeheim durchgeführt, hinter einem bewußten Schleier aus Lügen und Täuschung durch die beteiligten Ämter und Machthaber. Alle Fälle wurden durch eine strenge Zensur der Presse und Kontrolle von Journalisten verdeckt. Sogar die wahllose Bombardierung deutscher Städte durch die Briten wurde vor dem Unterhaus verschleiert und in Pressemitteilungen als Angriffe auf deutsche militärische Ziele ausgegeben. Daß die allgemeine strategische Bombenpolitik darauf hinauslief, Arbeiterunterkünfte anzugreifen, wurde bis lange nach dem Krieg geheimgehalten.

Schließlich können wir nun mit der in Tabelle 1.6 zusammenfassenden Statistik über Demozid und Krieg die Rolle der Staatsmacht veranschaulichen. Die Abbildungen 1.7A-D illustrieren die Machtkurven für die Gesamtzahlen für Demozid und Kriegsgefallene (Abbildungen 1.7A-B) sowie für die Intensität von Demozid und Kriegsgefallenen, beide gemessen als Prozentsatz der von einer Regierung ermordeten Bevölkerung (Abbildungen 1.7C-D). In jedem Fall ist es so, daß wenn die willkürliche Macht einer Regierung massiv steigt, d.h. wenn man sich von demokratischen Regierungen ausgehend über autoritäre hin zu totalitären Regimen zubewegt, daß dann auch die Menge der Morde um ein Vielfaches emporschnellt.

Zwei weitere Abbildungen bezeugen die schiere Lethalität staatlicher Macht. Abbildung 1.8 zeigt das Verhältnis von sämtlichen Kriegs- und Demozidtoten durch autoritäre oder totalitäre Macht und vergleicht diese mit den Toten demokratischer Regierungen. Zur Gesamtzahl aller entsprechenden Morde dieses Jahrhunderts tragen durch Demokratien verschuldete Demozide und Kriege lediglich zu 1 bzw. 2,2 Prozent bei.

Und in Abbildung 1.9, einer der wichtigsten Vergleiche in Bezug auf Demozid und Macht in Death By Government [Tod durch Staat], wird das Ausmaß an geschätzten Demoziden für jede Regierungsebene gezeigt. Wir schon im Vorwort erwähnt, habe ich über 8.100 Schätzungen für Demozid von über tausend Quellen gesammelt, um zu absoluten Mindest- und Maximalzahlen für von 219 Regierungen oder Gruppen begangene Demozide zu gelangen. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß die tatsächlichen Demozidzahlen niedriger oder höher sind als die Eckzahlen dieser Bandbreite. Die in vorherigen Abbildungen gezeigten Gesamtzahlen waren die Summe konservativ geschätzter Durchschnittsgesamtzahlen innerhalb dieser Bandbreite, die auch in dieser Abbildung angezeigt wird. Was nun die Abbildung 1.9 für jeden Regierungstyp wie etwa den autoritären darstellt, ist die Spanne, die aus der Summe aller Mindest- und Höchstzahlen aller Demozide aller Regierungen des betreffenden Typs resultiert. Der Unterschied zwischen den drei sich ergebenden und in der Abbildung gezeigten Zahlenspannen kann nur durch den Faktor Staatsmacht verstanden werden. In dem Maße, wie in der Abbildung willkürliche Macht von Regierungen von links nach rechts ansteigt, steigt auch das Ausmaß der betreffenden Demozide sprunghaft an, und zwar so sehr, daß die niedrigsten Demozidschätzungen für ein autoritäres Regime über den Maximalzahlen für Demokratien, und die Maximalzahlen für autoritäre unter der entsprechenden Mindestzahl der totalitären Regime liegen.

Staatliche Macht tötet also, und absolute Staatsmacht tötet absolut. Was kann man dann zu solchen angeblichen Ursachen oder Faktoren für Krieg, Genozid und Massenmord sagen, die von einigen Studenten, die sich mit Genozid beschäftigen, favorisiert werden? Was ist mit kulturell-ethnischen Unterschieden, Fremdgruppenkonflikten, Wahrnehmungsfehlern, Frustrationsaggressionen, relativem Entzug, ideologischen Imperativen, Dehumanisierung, Ressourcenwettbewerb etc.? Von Zeit zu Zeit spielen für das eine oder andere Regime einer oder mehr dieser Faktoren für Demozid eine wichtige Rolle. Manche Faktoren sind wesentlich für das Verständnis einiger Genozide, wie die an den Juden oder Armeniern, wie einige Politizide, wie an „Volksfeinden“, der Bourgeoisie oder dem Klerus, einige Massaker wie an konkurrierenden religiös-ethnischen Gruppen, oder einige Greuel wie jene gegen arme und hilflose Dorfbewohner durch siegreiche Soldaten. Doch in solchen Fällen brachten Nachbarn im Dienste der Macht ihre Nachbarn um, Väter töteten ihre Söhne, gesichtslose und unbekannte Menschen wurden durch Quoten ermordet. Man findet schwerlich eine Rasse, Religion, Kultur oder eine distinkte ethnische Gruppe, deren Regierungen nicht Mitglieder sowohl der eigenen Gruppe als auch anderer Gruppen ermordet hätten.

Diese spezifischen Ursachen oder Faktoren forcieren die Wahrscheinlichkeit von Krieg oder Demozid, sobald ein auslösendes Ereignis passiert und absolute oder fast absolute Staatsmacht vorhanden ist. Das heißt, staatliche Macht ist eine notwendige Ursache für Krieg oder Demozid. Wenn die Elite absolute Macht hat, folgen Krieg oder Demozid als ein gewöhnlicher Prozeß (den ich die „Konfliktspirale“17 nenne).

In jeder Gesellschaft, der internationalen eingeschlossen, werden die Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen durch soziale  Gegensätze strukturiert, die durch vorangegangene Konflikte, Übereinkommmen und Anpassungen zwischen ihnen bestimmt werden. Diese sozialen Gegensätze legen eine Erwartungsstruktur fest, welche die soziale Ordnung, einschließlich der Staatsmacht, leiten und regulieren. Und diese Struktur basiert auf einer bestimmten Machtbalance (verstanden als Gleichgewicht von Interessen, Fähigkeiten und Wünschen) zwischen Individuen und Gruppen. Das bedeutet, daß ein vorangegangener Konflikt und möglicherweise Gewalt in einer Machtbalance zwischen konkurrierenden Individuen und Gruppen und in einer kongruenten Erwartungsstruktur (wie zum Beispiel Krieg oder Revolution in einer neuen Machtbalance zwischen Nationen und Gruppen und einem damit verbundenen Friedensvertrag oder einer Verfassung) mündet. Diese Erwartungsstruktur besteht oft aus neuen Gesetzen und Normen, die eine soziale Ordnung bestimmen, welche mehr im Einklang mit  der zugrundeliegenden Verteilung relativer Macht steht.

Dennoch bleibt relative Macht niemals konstant. Sie verschiebt sich in dem Maße wie die Interessen, Fähigkeiten und Wünsche der Beteiligten sich ändern. Der Tod eines charismatischen Führers, die Verbrechen bedeutender Gruppen, der Verlust an fremder Hilfe durch Outgroups, Kriegseintritt und die daraus resultierende Freiheit der Elite, Gewalt unter dem Deckmantel der Kriegsnotwendigkeit anzuwenden, und dergleichen mehr, kann die Machtbalance zwischen Gruppen beträchtlich verändern. Wo eine solche Machtverschiebung die regierende Elite begünstigt, kann staatliche Macht nun ihr Potenzial entfalten. Wo auch die Elite Frustrationen gegenüber denjenigen aufgebaut haben, welche die Macht verloren haben, oder sich von ihnen dennoch bedroht fühlen, wo sie diese als außerhalb des moralischen Kosmos stehend ansehen, wo sie sie entmenschlicht haben, wo eine Outgroup kulturell oder ethnisch verschieden ist und die Elite sie als minderwertig wahrnimmt, oder wo irgendwelche anderen solcher Faktoren präsent sind, dort wird Macht sein mörderisches Potenzial entfalten. Sie wartet einfach auf einen Vorwand, auf irgendein Ereignis, einen Mord, ein Massaker in einem Nachbarland, einen versuchten Putsch, eine Hungersnot oder eine Naturkatastrophe, welches den Beginn des Massenmords rechtfertigen wird. Die meisten Demozide geschehen unter dem Mantel des Kriegs, von Revolution, Guerillakrieg oder in deren Gefolge.

Das Ergebnis solcher Gewalt wird eine neue Machtbalance und ein damit verbundener neuer Gesellschaftsvertrag sein. In einigen Fällen mag dieser den Demozid beenden, etwa durch die Ausrottung der „minderwertigen“ Gruppe (wie bei der Vernichtung der Armenier durch die Türken). In vielen anderen Fällen werden infolge dieses Zustands die Überlebenden unterjocht und niedergedrückt (wie im Falle der Ukrainer, welche Stalins Kollektivierungskampagne und absichtlich herbeigeführte Hungersnot überlebten). In einigen Fällen wird dadurch eine neue Machtbalance etabliert, die sich so sehr zugunsten der Elite neigt, daß diese zeit ihrer Herrschaft mit dem willkürlichen Morden weitermachen kann. Mord als öffentliche Politik wird Teil einer neuen Erwartungsstruktur, der neuen Gesellschaftsordnung. Nehmen wir die Gesellschaftsordnungen von Hitler, Stalin, Mao, Pol Pot und von deren Schergen.

Was dies alles verdeutlicht haben sollte ist, so glaube ich, daß man Krieg und Demozid auf der Grundlage stets gleicher Rahmenbedingungen verstehen kann. Diese Rahmenbedingungen ergeben sich als Stufe eines stets gleichen sozialen Prozesses, einer Balanceverschiebung der Macht, als deren Ergebnis die staatliche Macht absolut geworden ist.

Es ist jedoch zunächst nicht offensichtlich, warum unter Staaten, in denen Macht begrenzt und rechenschaftspflichtig ist, kein Krieg und kein bedeutender Demozid stattfindet. Zwei Konzepte erklären dies: Der gegenseitige Druck und die assoziierte Politkultur. Wo staatliche Macht verteilt, kontrolliert und rechenschaftspflichtig ist, zersplittert sich die Gesellschaft in eine Vielzahl unabhängiger Gruppen, ungleicher Institutionen und vielfältiger Interessen. Diese überlappen sich und konkurrieren miteinander, Loyalitäten werden aufgeteilt, Wünsche und Absichten zersplittert. Kirchen, Gewerkschaften, Unternehmen, Staatsbürokratien, politische Parteien, Medien, spezielle Interessengruppen und ähnliche kämpfen für ihre Interessen und schützen sie. Individuen und die Elite werden durch ihre Mitgliedschaft in mehreren solcher Gruppen und Institutionen hin- und hergezogen. Und es ist schwierig für jedermann, seine Interessen durchzusetzen. Interessen sind geteilt, schwach, ambivalent; sie sind gegenseitigem Druck ausgesetzt. Und damit eine Elite sich in ausreichendem Maße zusammenschließt, um sich daran begeben zu können, ihre eigenen Bürger zu ermorden, bedarf es eines fast fanatischen Interessenantriebs. Doch selbst wenn so etwas bei einigen wenigen vorhanden wäre, dann würden erstens die Diversität der Interessen innerhalb der politischen Elite und den angeschlossenen Bürokratien, zweitens die Freiheit der Medien, herauszufinden was geplant wird oder getan wurde, sowie drittens die stets vorhandenen potenziellen undichten Stellen und die Angst einer entrückten Elite gegenüber den Medien vor solchen undichten Stellen solchen Tendenzen zuwiderlaufen.

Was die Möglichkeit eines Krieges zwischen Demokratien angeht, so funktionieren Vielfalt und die daraus resultierenden gegenseitigen Druckkräfte gut. Es ist für eine Elite nicht nur sehr schwer, öffentliche Interessen und öffentliche Meinung in genügendem Maße zu vereinigen, um Krieg zu führen, sondern es gibt normalerweise auch diverse ökonomische, soziale und politische Bindungen zwischen Demokratien, welche diese miteinander verknüpfen und der Gewalt entgegenwirken.

Doch es gibt noch mehr dieser Staatsmachtsbeschränkungen in einer Demokratie. Gegenseitige Druckkräfte sind eine soziale Macht, die funktioniert, wo immer individuelle Freiheit und Gruppenfreiheit vorherrschen. Das ist normal für eine spontanes soziales Feld. Doch das menschliche Verhalten ist nicht nur eine Frage sozialer Kräfte, sondern hängt auch von den Bedeutungen, Werten und Normen ab. Das heißt, die demokratische Kultur ist ebenfalls ein wesentlicher Faktor. Wenn Staatsmacht kontrolliert wird und rechenschaftspflichtig ist, wenn Gegendruckkräfte die Ausübung von staatlicher Macht begrenzen, entwickelt sich eine bestimmte demokratische Kultur. Diese Kultur beinhaltet Debatten, Demonstrationen, Proteste, aber auch Verhandlung, Kompromiß und Toleranz. Es beinhaltet die Kunst der Konfliktlösung und die Akzeptanz demokratischer Prozeduren auf allen Gesellschaftsebenen. Der Wahlzettel ersetzt die Kugel, und vor allem werden Menschen und Gruppen dazu gebracht, eine Niederlage in Bezug auf dieses oder jenes Interesse zu akzeptieren als einen unglücklichen Ausgang eines legitimen Spiels: „Verliere heute, gewinne morgen.“

Daß eine demokratische politische Elite anhand irgendeiner öffentlichen Politik Oppositionelle töten oder Genozid begehen sollte, ist undenkbar (obwohl so etwas in den isolierten und geheimen Winkeln des Staats passieren kann, wo Macht immer noch lauert). Selbst öffentliches Beleidigen und Entmenschlichen von Außenseitergruppen ist in modernen Demokratien zu einer sozialen und politischen Sünde geworden. Das bezeugt heutzutage die Wirksamkeit solcher Anschuldigungen wie in Bezug auf “Rassismus” oder “Sexismus”. Natürlich funktioniert die Kultur der Demokratie ebenso zwischen Demokratien. Diplomatie, nämlich das Aushandeln eines Kompromisses und die Suche nach gemeinsamen Interessen, ist ein Teil der funktionierenden Vermittlungsarbeit zwischen Demokratien. Eine detaillierte politische Geschichte der Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft zeigt dies gut. Da jede Demokratie die Legitimation und die jeweiligen Interessen der anderen für gegeben hält, ist ein Konflikt zwischen ihnen lediglich ein Prozeß gewaltlosen Lernens und Anpassens. Konferenzen, nicht Krieg, ist das Mittel, um Streitigkeiten beizulegen.

Zusammengefaßt kann man sagen, daß dort wo absolute Staatsmacht existiert, Interessen polarisiert werden, eine Kultur der Gewalt sich entwickelt und Demozid die Folge ist. In diesem Jahrhundert allein hat, nach jetziger Zählung, absolut-totalitäre Staatsmacht fast 138 Millionen Menschen getötet (Tabelle 1.6). Mehr als 14 Millionen ihrer Untertanen sind in den Kriegen dieser Mächte gestorben. Dort wo zwischen Staaten die Macht begrenzt und rechenschaftspflichtig ist, wo Interessen auf Gegendruckkräfte stoßen und eine Kultur der Nicht-Gewalt sich entwickelt, haben keine Kriege stattgefunden und vergleichsweise wenig Bürger sind von der herrschenden Elite umgebracht worden, wobei sogar die meisten diesbezüglich genannten Todeszahlen fragwürdig sind. Etwa 90 Prozent der Bürger, die durch Demokratien getötet wurden, beziehen sich auf das nur marginal demokratische Spanien (während des Bürgerkriegs 1936-39 und durch die Republikaner nach dem Krieg), Indien und Peru (während seines Kampfes gegen die kommunistischen Guerillas des Leuchtenden Pfads).

Dieses Bild der staatlichen Macht und ihrer menschlichen Opfer ist neu. Wenigen ist das Ausmaß des Demozids bewußt, der unseren Mitmenschen zugefügt wurde. Daß Hitler Millionen von Juden ermordete, ist allgemein bekannt. Daß er insgesamt fast 21 Millionen Juden, Slawen, Zigeuner, Homosexuelle, Franzosen, Balten, Tschechen und andere ermordete, ist so gut wie unbekannt. Auch daß Stalin zig Millionen Menschen ermordete, wird gemeinhin anerkannt. Aber daß Stalin, Lenin und ihre Nachfolger fast 62 Millionen sowjetische Bürger und Ausländer ermordeten, wird außerhalb des heutigen Gebiets der Sowjetunion (wo ähnliche Zahlen nun überall veröffentlicht werden) wenig begriffen. Dann ist da das China Mao Tse Tungs, das China Chiang Kai-Sheks, das militaristische Japan, Yahya Khans Pakistan, Pol Pots Kambodscha und andere in Tabelle 1.4 aufgelistete Staaten, die mehrere Millionen Menschen umbrachten. Selbst jene Genozidforscher, die versuchten, solches Töten rund um die Welt tabellarisch aufzuzeichnen, haben die Gesamtbilanz massiv unterschätzt. Die beste und jüngste dieser Bilanzen kam auf nicht mehr als 16 Millionen in Genoziden und Politiziden seit dem Zweiten Weltkrieg Getötete.18 Doch diese Schätzung umfaßt noch nicht einmal die Hälfte der etwa 35 Millionen Menschen, die wahrscheinlich allein durch die Kommunistische Partei Chinas zwischen 1949 und 1987 umgebracht wurden. (Tabelle 1.2).

Darüber hinaus wird sogar selbst die Opferbilanz von Kriegen nicht richtig verstanden. Viele schätzen, daß zum Beispiel der Zweite Weltkrieg zwischen 40 und 60 Millionen Menschenleben kostete. Doch das Problem mit solchen Zahlen ist, daß sie zig Millionen durch Demozid Getötete enthält. Viele Staaten massakrierten in Kriegszeiten Zivilisten und Ausländer, begangen Greuel oder Genozid gegen sie, richteten sie hin und setzten sie Repressalien aus. Abseits von Schlachten und militärischen Einsätzen ermordeten die Nazis während des Kriegs ungefähr 20 Millionen Zivilisten und Kriegsgefangene, die Japaner 5,89 Millionen, die chinesischen Nationalisten 5,907 Millionen, die chinesischen Kommunisten 250.000, die kroatischen Nazi-Satelliten 655.000, die Tito-Partisanen 600.000 und Stalin 13,053 Millionen (oben sind die 20 Millionen Kriegs- und Demozidtoten durch die Nazis an sowjetischen Juden und Slaven genannt). Ich sollte auch die wahllose Bombardierung von Zivilisten durch die Alliierten, wodurch Hunderttausende getötet wurden, und die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki erwähnen. Die meisten dieser Toten werden normalerweise den Kriegstoten zugerechnet. Doch die bei Kampfhandlungen getöteten Menschen und die Demozidopfer bilden unterschiedliche konzeptionelle und theoretische Kategorien und sollten nicht miteinander vermengt werden. Daß diese dauernd und manchmal absichtlich miteinander vermischt werden, trägt dazu bei, die Bilanz des Zweiten Weltkriegs auf etwa 60 Millionen Menschen zu erhöhen, was weit über den geschätzten 15 Millionen in Schlachten und Militäraktionen Getöteten liegt. Und daß die fast universell akzeptierte Genozidzahl dieses Zeitraums nicht über die „6 Millionen“ Juden hinausgeht, was etwa 13 Prozent der gesamten Demozidzahlen dieses Kriegs ausmacht, hat unser Forschen und Denken noch weiter durcheinandergebracht.19

Weiterhin wurde unsere Einschätzung des unglaublichen Ausmaßes von Genozid, Politizid und Massenmord in diesem Jahrhundert durch einen Mangel an Konzepten getrübt. Demozid wird durch absolute Macht begangen, und dessen Agentur ist der Staat. Die Disziplin, in der man Macht und Staat und den damit verbundenen Genozid und Massenmord studiert und analysiert, ist die Politikwissenschaft. Doch abgesehen von einigen besonderen Fällen wie des Holocausts und des Völkermords an den Armeniern und einiger weiterer wertvoller allgemeiner Werke findet man kaum politikwissenschaftliche Forschung zu diesem Thema.

Nun ist einer der Universitätskurse, die ich gebe, eine Einführung in die Politikwissenschaften. Jedes Semester lese ich mehrere mögliche einleitende Texte (eine sehr gute Maßnahme in dieser Disziplin) für den Kurs durch. Oft muß ich einfach den Kopf schütteln über das, was ich dann lese. Angesichts der in Tabelle 1.2 insgesamt aufgeführten Demozidzahlen erscheinen die Konzepte und Ansichten, die in diesen Texten vorgebracht werden, recht unrealistisch. Sie stimmen einfach nicht, erklären nicht oder widersprechen sogar der Existenz eines Höllenstaates wie Pol Pots Kambodscha, eines Gulag-Staates wie Stalins Sowjetunion oder eines Genozid-Staates wie Hitler-Deutschland.

So las ich neulich in einem Studentenheft, in dem sich ein Kapitel der Beschreibung der Funktionen des Staates widmet. Darunter waren Recht und Ordnung, individuelle Sicherheit, der Erhalt der Kultur und soziale Wohlfahrt. Politikwissenschaftler schreiben dieses Zeug immer noch, wo wir doch zahlreiche Beispiele von Staaten haben, welche Hunderttausende oder sogar Millionen ihrer eigenen Bürger getötet, den Rest versklavt und die traditionelle Kultur abgeschafft haben (die Roten Khmer benötigten nur ungefähr ein Jahr, um den Buddhismus völlig zu unterdrücken, welcher das Herz und die Seele der kambodschanischen Kultur war). Ein Systemansatz zur Politik dominiert immer noch das Feld. Durch diese Linse gesehen ist Politik eine Angelegenheit von Inputs und Outputs, von Bürger-Inputs, deren Bündelung durch politische Parteien, des die Politik bestimmenden Staats und der die Politik implementierenden Bürokratie. Dann gibt es die gewöhnliche und grundlegende Rechtfertigung des Staats, die dahingeht, daß dieser besteht, um die Bürger gegen den anarchischen Dschungel zu schützen, der sonst deren Leben und Eigentum bedrohen würde. Solche archaischen oder sterilen Sichtweisen zeigen keine Berücksichtigung der Existenz von Demozid und all der damit verbundenen Greuel und Leiden. Sie passen nicht zu einer Regierung, die rittlings auf einer Gesellschaft sitzt wie eine Schlägertruppe über überfallenen Wanderern in den Wäldern, die sie alle ausraubt, einige vergewaltigt, andere zum Spaß foltert, diejenigen, die sie nicht mag, ermordet und den Rest derart terrorisiert, daß er gehorcht. Dieser genauen Beschreibung vieler vergangener und gegenwärtiger Staaten, wie etwa Idi Amins Uganda, wird die herkömmliche Politikwissenschaft kaum gerecht.

Auch ist zu berücksichtigen, daß ganze Bücherregale geschrieben wurden zur möglichen Natur und den Folgen eines Nuklearkriegs und wie dieser verhindert werden könnte. Doch in der Lebenszeit so mancher noch lebender Zeitgenossen haben wir eine Demozidzahl erlebt (verbunden mit Zerstörung und Elend unter den Überlebenden), die der eines Atomkriegs gleichkommt, vor allem wenn wir die Obergrenze der Schätzungen von fast 360 Millionen nehmen. Das ist so, als sei ein Atomkrieg bereits geschehen! Doch meines Wissens gibt es nur ein einziges Buch, das die Gesamtzahl an Menschenleben, die dieser „Atomkrieg“ gekostet hat, nennt, und zwar Gil Elliots Twentieth Century Book of the Dead.

Was man braucht, ist eine Neudefinition von Staat und Politik, die konsistent ist mit dem, was wir nun über Demozid und dem damit verbundenen Elend wissen. Neue Begriffe müssen erfunden werden, alte einer Neuausrichtung unterzogen werden, um unsere Sichtweise auf staatliche Macht zu korrigieren, ja ich wage zu sagen zu „modernisieren“. Wir müssen Begriffe für Regierungen erfinden, die ihre Staaten in aneinander angrenzende Konzentrationslager verwandeln, die absichtsvoll Millionen (!) Menschen verhungern lassen, die Quoten aufstellen von Menschen, die in einem Dorf oder in einer Stadt getötet werden sollen (obwohl Mord per Quote von Sowjets, chinesischen Kommunisten und Vietnamesen durchgeführt wurde, konnte ich in keiner einleitenden oder allgemeinen Politikwissenschaftsliteratur nicht einmal die entsprechende Erkenntnis darüber finden, daß Staaten so unglaublich unmenschlich sein können). Wir haben keinen Begriff für Mord als Ziel einer öffentlichen Politik, beschlossen infolge einer Diskussion der herrschenden Elite in den höchsten Gremien, und durchgeführt von der staatlichen Bürokratie. Tatsächlich wird man in keinem einzigen Register eines allgemeinen Buches über Politik und Staat einen Bezug auf Genozid, Mord, Ermordete, Getötete, Hingerichtete oder Massaker finden. So etwas wird nicht einmal in Büchern mit Registern über die Sowjetunion oder China verwendet. Die meisten Bücher lassen sogar Registerbezüge zu Konzentrations- oder Arbeitslagern oder Gulags aus, obwohl sie vielleicht einen Absatz oder etwas mehr darüber enthalten.

Eine hervorstechende Tatsache in Bezug auf Staaten ist die, daß einige kaltblütig mehrere Millionen Menschen ermorden. Das geschieht dort, wo eine absolute Staatsmacht regiert. Eine zweite Tatsache ist die, daß normalerweise die gleichen Staaten weitere Zehntausende durch Aggressionen gegen das Ausland ermorden. Wieder haben wir es mit absoluter Staatsmacht zu tun. Diese beiden Tatsachen allein müssen die Basis unserer neuen Begriffsbildung und Taxonomien werden. Nicht nur, wie es heute der Fall ist, die Fragen, ob Staaten entwickelt sind oder nicht, zur dritten Welt gehören oder nicht, militärisch stark und groß sind oder nicht. Wichtig, wenn nicht noch wichtiger ist aber auch die Frage, ob Staatsmacht absolut ist und ob sie Genozid, Politizid und Massenmord verschuldet hat.

Auf jeden Fall ist dies die empirische und theoretische Schlußfolgerung: Der Weg, um Krieg zu beenden und Demozid praktisch auszuschalten, scheint die Beschränkung und Kontrolle von Staatsmacht zu sein. Das bedeutet, daß man die demokratische Freiheit fördern muß.

ANMERKUNGEN

* Aus dem vom Vorverleger herausgegebenen Manuskript von Kapitel 1 von R.J. Rummels Death By Government, 1994. Das vollständige Buch, sein Inhaltsverzeichnis, seine Abbildungen und Tabellen und der Text des Vorworts, sind hier einzusehen.

1. Rummel (Understanding Conflict and War, "Libertarianism and International Violence", "Libertarian Propositions on Violence Within and Between Nations").

2. Power in Großbuchstaben steht für Staatsmacht und die entsprechenden Machthaber (wie Stalin), Institutionen (wie Staatsabteilungen und Bürokratien) und Werkzeuge (wie Armeen, Konzentrationslager und Propaganda).

3. Als das demokratische Finnland sich bei seinem Kampf gegen die Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs Nazi-Deutschland anschloß, erklärte Großbritannien Finnland den Krieg. Doch offensichtlich fanden keinerlei militärischen Aktionen zwischen Finnland und Großbritannien statt.

4. Würde Indien nicht autoritär werden, wären etwa 40% der Weltbevölkerung demokratisch. Dies basiert auf der Klassifizierung von Staaten durch Freedom House in freie, teils freie oder nicht freie in Bezug auf bürgerliche Freiheiten und politische Rechte. Letzter Stand, siehe Freedom Review 24 (Februar 1993): 4-41.

5. Was gegenteilige Befunde in Bezug auf klassische Kriege zwischen griechischen Stadtstaaten angeht, siehe Russett 1993, Kapitel 3.

6. Der Historiker Spencer Weart hat die Geschichte des Krieges seit der Antike auf mögliche Beispiele für Kriege zwischen Demokratien hin untersucht. Trotz der vielen Demokratien, welche im Laufe der gesamten Geschichte existierten, fand er keinen eindeutigen Fall für solch einen Krieg. [Siehe Spencer Weart, Never At War, New Haven: Yale University Press, 1998].

7. Ember, Ember und Russett (1991).

8. Gefallenenzahlen bis 1980 stammen von der Aufstellung von Kriegen und Gefallenen von Small und Singer (1982).

9. Ich habe eine mittlere Schätzung von fast 17 Millionen während des Sklavenhandels getöteten Afrikanern errechnet. Sie Zeile 92 von Tabelle 2.1A in the Statistics of Democide.

10. William Shakespeare, King Richard II, iv, i, 144.

11. Die erste war von Elliot (1972).

12. Demozid wird angemessenerweise besser mit zwischenstaatlichen Kriegstoten verglichen als mit der Gesamtzahl an Kriegstoten aus zwischenstaatlichen Kriegen und Bürgerkriegen. Totalitäre Regime nutzen ihre absolute  Macht, um jegliche Opposition zu unterdrücken und wenden Waffengewalt gegen sie an, was ein relativ niedriges Ergebnis in Bezug auf Bürgerkriegstote ergibt (obgleich dies immer noch höher ausfällt als in Demokratien). Was Bürgerkriege angeht, so geschehen diese für gewöhnlich beim Herrschaftsantritt eines Regimes wie zum Beispiel der blutige Bürgerkrieg nach dem bolschewistischen Putsch in Rußland 1917, oder nach einem größeren Krieg, wenn unter einer fremden Besatzung die Opposition dazu in der Lage ist, sich zu bewaffnen und zu organisieren, wie etwa die Guerillas, die gegen die sowjetische Wiederbesetzung der baltischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg kämpften.

13. Egal ob man die amerikanische Intervention in Vietnam für richtig oder falsch hält: Eine Tatsache ist aus den Dokumenten, Interviews und Reden offizieller vietnamesischer Stellen seit dem Ende des Krieges klar geworden: Der Vietnamkrieg wurde vom kommunistischen Nordvietnam begonnen, um Südvietnam zu erobern. Da Südvietnam durch eine Reihe von Staaten, einschließlich der USA, als souveräner Staat anerkannt war, hatten wir es mit einem Akt internationaler Aggression zu tun. Und erst als der Süden nahe am militärischen Zusammenbruch stand, intervenierten die USA zur Rettung voll und mit massiver Militärkraft. Siehe Kapitel 11 in Death By Government.

14. Mehr als 4838 Meilen, und das hin und zurück und zwanzig mal? Das ist so unglaublich, daß ich diese Rechnung nicht glauben wollte und sie mehrmals wiederholen mußte.

15. Ob diese Art des Mordens angemessenerweise dem Demozid zugerechnet wird, wird bei dessen Definition erörtert.

16. Demozid in den USA, Großbritannien und Frankreich wird detailliert aufgeführt in Statistics of Democide. Siehe Kapitel 14 für Frankreich und Großbritannien.

17. Siehe mein Buch The Conflict Helix: Principles and Practices of Interpersonal, Social, and International Conflict and Cooperation, New Brunswick: Transaction Publishers, 1991.

18. Barbara Harff und Ted Robert Gurr. "Toward Empirical Theory of Genocides and Politicides: Identification and Measurement of Cases since 1945." International Studies Quarterly, Vol. 32 (1988): 359-371.

19. Während des Krieges begangen die Sowjets Genozid gegen zumindest neun ihrer verschiedenen ethnisch-linguistischen Minderheitsvölker, darunter ethnische Deutsche, ethnische Griechen, Krimtataren und Balkaren. Zu von anderen begangenen Genoziden gehören die der Deutschen an Slaven, Zigeunern, und Homosexuellen, die der Kroaten an Serben, Juden und Zigeunern, die der Serben an Kroaten und Moslems, die der Ungarn an ihren Juden, die der Serben, Polen und Tschechen an ihren ethnischen Deutschen.

 

Übersetzung: David Schah